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exhibitions

Rede von Uwe Lempelius



Reinhard Stammer zeigt heute eine große Anzahl seiner Malereien in seiner eigenen Galerie. Wenn man als Laie äußerlich an seine Malerei herangeht, dann sagt mancher, es handele sich um die Bilder eines Laien oder auch eines Sonntagsmalers. Doch das ist einfach falsch. Doch nicht die Tatsache, dass man Kunst studiert, ist eine Garantie für die Qualität der gemalten Kunstwerke, sondern allein die Art, wie man malt. Auch durch das Studium der Literatur wird man nicht zum Schriftsteller. Kunst ist eine visuelle Sprache. Wer mit dieser Sprache aufwächst, für den ist es wie eine Muttersprache.

Eine große Anzahl von Künstlern hat nicht Kunst studiert, ich nenne nur die deutschen Expressionisten der „Brücke“, die überwiegend Architektur studierten, dann aber die Malerei der Zeit vor dem ersten Weltkrieg revolutionierten, wie Schmidt-Rottluff und Erich Heckel.

Natürlich lässt der größte Teil der sogenannten Sonntagsmaler keine Kunstwerke entstehen, aber es gibt viele, die diesen Status erreichen. Und das unterscheidet das Künstlersein von anderen Berufen. Es gibt keine autodidaktischen Ärzte oder Rechtsanwälte. Ich kenne aber mehrere Künstler ohne eine Ausbildung, die im Bundesverband der Künstler Mitglied sind.

Weshalb ich das jetzt eingangs alles sagte, das begründe ich damit, dass immer noch die Meinung herrscht, wer nicht Kunst studiert, der ist kein rechter Künstler. Man denke nur an den naiven Zöllner Henri Rousseau, dessen naive Kunst Picasso einst entdeckte.

Ja, nun habe ich Stammer mit den großen Künstlern in Verbindung gebracht. Er hat aber auch eine ganze Reihe von Malereien entstehen lassen, bei denen kein Betrachter sagen würde, wenn er sie in einem Museum als Exponat entdecken würde, er sei ein Dilettant. Natürlich ist nicht jedes Bild eines Künstlers museumsreif, so natürlich auch nicht bei Stammer und auch nicht bei mir.

Stammer malte seit seiner Kindheit. Malerei ist also seine zweite Sprache. Er hat auch viele Gedichte geschrieben, und das ist ja auch ein Weg, der über die Bewältigung der Sprache geht und nicht über ein Studium. Erst vor fünf Jahren entdeckten Freunde die hohe Qualität seiner Bilder, und seit dieser Zeit malt er wie ein Besessener. Die Technik seiner Malerei kann man als „Mischtechnik“ bezeichnen, das heißt er verwendet viele unterschiedliche Materialien, Ölfarben, Tempera und sogar Asphaltmasse. In vielen Bildern, in denen man Asphalt erkennt, lässt er die darüber gamalten Farben reißen, dann entstehen viele einzelne kleine Strichformen, die er dann mit Pinsel-Strichformen in derselben Farbe kombiniert. Dadurch entsteht eine für das Auge interessante Gesamtstruktur, eben mal Riss und mal Strich. Stammers Maltechnik kann man als eine experimentelle Technik bezeichnen.

Seine Bilder müssen manche Bearbeitung ertragen, bis sie fertig sind. Dick aufgetragene Plastikmassen werden oft durch das Beschleifen mit Sandpapier in ihrer Struktur verändert. Alle Bilder sind farblich unterschiedlich, mal sind sie monochrom, mal bestehen sie aus vielen gegensätzlichen Farben in unterschiedlicher Buntheit und erinnern an die frühen Bilder des Tachismus. Aber die Malereien Stammers sind keine überwiegend an anderen Kunstwerken orientierte Bilder, sondern sie haben einen künstlerischen Eigenwert. Was er malt, entsteht in seiner eigenen künstlerischen Sprache.

Stammer ist auch kein Abstrakter in der Folge der fünfziger Jahre, denn damals malte kein abstrakter Maler in einem gegestandslosen Bild einige Formen von Gegenständen. Bei Stammer sieht man vollkommene Gegenstandslosigkeit, aber plötzlich ist eine kleine Form wie ein menschlicher Kopf zu sehen, und sucht man weiter, dann findet man weitere Kopfformen. In einem Bild entdeckte Stammer selbst plötzlich, dass alle Köpfe zusammen einen großen Kopf darzustellen scheinen, das ist das Bild „In den Abgründen des Geistes warten unbekannte Wesen auf ihre Befreiung“. Viele Köpfe sieht man hier in einem Kopf.

Er entdeckte es selbst erst, was er gemalt hat, nachdem er es gemalt hatte. Damit ist natürlich auch begründet, warum die Titel der Bilder erst entstehen, wenn er mit der Malerei fertig ist. Ein Bild zeigt stark verdichtete Formen im Zentrum der Fläche, nach den Außenseiten hin lösen sich die Formen immer weiter auf. Und so nennt er dieses Bild „Ununterbrochenes Werden und Vergehen“. Stammers Bildtitel sind nicht nur beschreibende Begriffe, sondern er formuliert fast immer einen ganzen Satz für ein Bild als Titel. Grundsätzlich formuliert er seine Titel erst, wenn das Bild fertig ist. Und das ist der große Unterschied der Titel solcher Malerei zu den Titeln etwa eines Realisten.

Wenn ein abbildender Maler einen Titel formuliert, dann kennt er ihn schon vom Anfang seines Malvorgangs an. Wer eine Fördelandschaft malt, weiß, dass der Titel das Bild auch dann so benennen wird. In der abstrakten Malerei ist das anders. Ich kann nur von mir selbst berichten und vermuten, dass es bei Stammer nicht anders läuft. Viele meiner Bilder bekommen einen Titel erst, wenn sie  in eine Ausstellung kommen. Es gibt ja auch Künstler, die Titel vermeiden und dann als Titel einfach nennen „Ohne Titel“. Aber das macht Stammer nicht. Zwar gibt es ein Bild mit dem Titel „Blue Star“, und man sieht auch einen besonderen blauen Punkt in der Mitte, aber solche scheinbaren Beschreibungen sind seltener. Oft formuliert er einen umfangreichen Titel, der etwas über das Bild aussagen soll, wie „So langsam beginnt sich alles aufzulösen“, oder auch „Zwischen den Zweigen tanzt das Licht“. Und ein blaues Bild mit geschliffenen Formen lässt ihn eine Frage stellen, die das Bild behandelt: „Hat es einen Anfang gegeben?“ nennt er dies Bild.

Stammer malt viele unterschiedliche Bilder, aber sie wirken doch wie Teile eines zusammengehörigen Werks. Zugleich erkennt man die künstlerische Denkweise Stammers. Natürlich würde jeder andere als Betrachter einen anderen Titel formulieren, aber Bildtitel haben oft etwas mit den archetypischen Bedeutungszusammenhängen zu tun, wie wir sie aus der Jungschen Psychologie kennen. Solche Zusammenhänge sind etwas völlig anderes als rein subjektive Denkvorgänge. Ich habe einmal eine Ausstellung von abstrakten Zeichnungen des Malers Franz Marc gesehen, die er an der Westfront des 1. Weltkriegs zeichnete. Wenige Tage später ist er gefallen. Mit verschiedenen jungen Freunden ging ich durch die Ausstellung und wir planten dann eine andere Betrachtungsweise. In einer Ausstellung soll man nicht erst den Titel lesen und dann auf das Bild schauen, sondern erst hinschauen, dann etwas selbst formulieren und das dann mit dem Titel vergleichen. Man erlebt niemals denselben Titel, aber immer wieder erlebt man Parallelitäten in der Formulierung. Wenn man das bei der Betrachtung erreicht, hat man archetypische Bedeutungen erfasst, und die sind niemals allein subjektiv. Und ich behaupte: Jede gute Kunst, die nicht nur abbildet, hat archetypische Bedeutungen. Daraus lässt sich auch gleich wieder schließen: Fast jede Kunst hat einen Bezug  zur Wirklichkeit. Und hier gibt es eben zwei markant unterschiedliche Wirklichkeitsbezüge: der eine ist allein optischer Natur. Bie diesem Bezug vergleiche ich mit der sichtbaren Wirklichkeit. Der andere ist der Bezug über die Assoziation. Und die funktioniert beim Betrachten so: Ich sehe etwas, und dann denke ich an etwas. Einen dieser zwei Bezüge zur Wirklichkeit zeigen alle Künste mit einer Ausnahme. Allein der Konstruktivismus baut Formen, die nicht für etwas anderes stehen, sondern nur für sich allein.

Nun darf ich Sie bitten, intensiv die Ausstellung weiter zu betrachten. Vermeiden Sie nur, allein mit der sichtbaren Wirklichkeit zu vergleichen, dann werden Sie viele künstlerische Entdeckungen machen.


"Malerei ist also seine zweite Sprache"
Uwe Lempelius zur Ausstellungseröffnung
„Pure Energy4“